Die Europäische Union ist in ihrem Ursprung vor allem ein gemeinsamer Wirtschaftsraum. Im Sinne der Friedenssicherung und Prosperität des ganzen Kontinents. Doch von diesen Wurzeln entfernen wir uns immer mehr. Dabei haben wir in der mehr als 70-jährigen europäischen Erfolgsgeschichte viel erreicht: Die EU ist der größte Binnenmarkt der Welt, wir haben eine gemeinsame Währung und sind ein weltweit geschätzter Handelspartner. Doch die ökonomische Stärke Europas ist in Gefahr. Niedrige Wachstumsraten, hohe Staatsverschuldung und eine überbordende Bürokratie, die vor allem aus Brüssel kommt, lähmen unsere Wirtschaft. Deshalb ist es wichtig, die Weichen neu zu stellen und alles zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit zu tun. Es ist gut, dass die EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen den früheren EZB-Chef Mario Draghi damit beauftragt hat, Vorschläge zu machen, wie Europa als wirtschaftliches Kraftzentrum leistungsfähiger wird. Diese Neuausrichtung müssen wir konsequent angehen.
In den vergangenen Jahren haben die EU-Kommission und das EU-Parlament diese Stärkung der Wirtschaftskraft leichtfertig vernachlässigt. In der Wahrnehmung vieler Unternehmer hat sich die EU zu einer Organisation entwickelt, die vom Feldherrnhügel moralischer Erhabenheit unternehmerisches Handeln einschränken, die mehr kontrollieren als ermöglichen will. Für das Ansehen der Europäischen Union, eine der größten zivilisatorischen Errungenschaften des 20. Jahrhunderts, ist dies eine gefährliche Entwicklung. Der politische Apparat verliert zunehmend den Rückhalt und den Respekt derjenigen, die die ökonomische Grundlage sichern. Viele Kommissare machen in Brüssel lieber Termine mit Vertretern von Nichtregierungsorganisationen als mit Unternehmen und Wirtschaftsverbänden. Die Folgen spüren die Familienunternehmen, die in den europäischen Ländern entscheidend für Wachstum und Innovationen sorgen.
In der EU sind 70 bis 80 Prozent aller Betriebe Familienunternehmen und auf sie entfallen 40 bis 50 Prozent der Gesamtbeschäftigung. Familienunternehmen sind es gewohnt, sich auf schnell ändernden Weltmärkten zu behaupten. Sie wollen sich auf ihr Geschäft konzentrieren und verzichten auf administrativen Überbau. Doch die EU-Gesetzgebung hat in den vergangenen Jahren dazu geführt, dass Familienunternehmen von bürokratischer Regulierung erdrückt werden. Brüssel hat das rechte Maß verloren, was sich deutlich bei der geplanten EU-Lieferkettenrichtlinie zeigt. Dieses Gesetz ist gut gemeint, aber schlecht gemacht. Deshalb liegt es im Sinne der europäischen Unternehmen und ihrer Mitarbeiter, dass große Länder wie Deutschland und Italien sowie weitere Staaten dieses Vorhaben in Brüssel vorerst gestoppt haben.
Wenn dieses Gesetz in aktuell geplanter Form käme, würde es nicht nur den europäischen Unternehmen schaden, sondern auch den Menschen in Entwicklungs- und Schwellenländern. Führende Ökonomen warnen vor deutlichen Wohlstandsverlusten im globalen Süden , da ein unkalkulierbares Haftungsrisiko dazu führen kann, dass sich Unternehmen gänzlich aus diesen Regionen zurückziehen. Ist der Welt geholfen, wenn wir ein gutes Gewissen, die Menschen in den Entwicklungsländern aber das Nachsehen haben, weil sie aus globalen Lieferketten ausgeschlossen sind und ihre Kostenvorteile nicht mehr nutzen können? Der moralische Gestaltungseifer hat eine kritische Kehrseite.
Die EU hat sich mit diesem Gesetzgebungsvorhaben völlig verhoben, weshalb ein erneuter Anlauf mit mehr Zeit und Sorgfalt notwendig ist. Einige Mitglieder des EU-Parlaments inszenieren das Ringen um das Lieferkettengesetz als Kampf zwischen Gut und Böse: Auf der einen Seite die global agierenden Unternehmen, denen die Rendite angeblich über alles geht. Auf der anderen Seite die Nichtregierungsorganisationen, die sich für humane Bedingungen in den Entwicklungs- und Schwellenländern einsetzen. Doch dies hat mit der Realität nichts zu tun. Gerade Familienunternehmen legen bei der Wahl ihrer Lieferanten hohe Standards an. Die UN-Leitprinzipien für Wirtschaft und Menschenrechte sind für europäische Unternehmen bereits maßgebend. Wir erleben dennoch eine EU-Gesetzgebungsmaschinerie, die nach dem Grundsatz verfährt: Der Wahrnehmung von Verantwortung des Einzelnen ist zu misstrauen und durch ein Maximum an Bürokratie und Kontrolle zu ersetzen.
Hier benötigen wir ein Umdenken. Wir dürfen den internationalen Handel nicht mit ständig neuen Auflagen bremsen, sondern sollten mit Freihandelsabkommen dafür sorgen, dass Wohlstand in Industrie-, Schwellen- und Entwicklungsländern steigt. Das ist der Weg zu mehr Prosperität und Teilhabe und nicht die Implementierung bürokratischer Prozesse.
Die Unternehmen in Deutschland sammeln bereits Erfahrungen mit dem deutschen Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz, das seit 2023 gilt. Der Praxistest zeigt: Aufwand und Rechtsunsicherheit sind gestiegen. Das Versprechen der Politik, die Sorgfaltspflichten gälten nur für größere Unternehmen, hat sich in der Praxis außerdem als falsch herausgestellt. Dies wäre auch dann zu erwarten, wenn das EU-Lieferkettengesetz käme. Die EU will ihre Regeln schon für Betriebe ab 500 Mitarbeitern anwenden.
Europa ist der Kontinent mit der dichtesten Regulierung. Es ist ein Armutszeugnis, dass die EU ein Lieferkettengesetz vorgelegt hat, das sogar Lieferanten aus dem EU-Binnenmarkt erfasst. Die Überkomplexität ist einer der Gründe, warum Familienunternehmen und mit ihnen die meisten Wirtschaftsverbände vor neuer EU-Bürokratie warnen. Wir benötigen nicht mehr, sondern weniger Regulierung in Europa. Dies liegt im Sinne der europäischen Gründungsidee als Wirtschaftsgemeinschaft.
Dr. David Deißner ist seit Mai 2023 Geschäftsführer der Stiftung Familienunternehmen und Politik.
Der promovierte Geisteswissenschaftler und ausgebildete Journalist war vor seinem Eintritt in die Stiftung Vice President Global Public Affairs der Hellofresh SE und verantwortete in dieser Funktion unter anderem die internationalen Regierungsbeziehungen des Konzerns, dem Weltmarktführer im Bereich Meal Kits. Zuvor war er etwas mehr als fünf Jahre Geschäftsführer der transatlantischen Organisation Atlantik-Brücke e.V. und war in dieser Funktion auch Mitglied des geschäftsführenden Vorstands. Vorangehend war er in verschiedenen Funktionen bei Vodafone und der gemeinnützigen Vodafone Stiftung tätig. Zuletzt baute er zudem das Vodafone Institut für Gesellschaft und Kommunikation mit auf. Als europäischer Think Tank des Unternehmens arbeitet das Institut zu den Potenzialen von Zukunftstechnologien für den gesellschaftlichen Wandel.
L’analisi di David Deißner