10/25/2024

Europa verliert ökonomisch an Substanz

Laut Herbstprognose der OECD fällt Europa beim Wachstum zurück, während die USA, Kanada, China und weitere asiatische Länder eine stärkere Dynamik zeigen. Europa muss seine strukturellen Schwächen beseitigen. Dazu zählen beispielsweise Hindernisse im Binnenmarkt und chronische Überregulierung. Europa lebt von Vertrauen. Dazu gehört der Anspruch, dass die EU ein ökonomisches Kraftzentrum bleibt und ihre wirtschaftlichen Versprechen umsetzt. Dieses Vertrauen steht aktuell auf dem Spiel.

Brüssel versichert seit Monaten, endlich Bürokratie abzubauen. Doch Familienunternehmen warten vergeblich auf spürbare Entlastungen. Die angekündigte Reduktion der EU-weiten Berichtspflichten verläuft im Sand. Dabei läge in einer Vereinfachung von Regulierung die Chance, dass die EU ihre Steuerungskraft bei der Umsetzung von Vorhaben behält und die Ziele erreicht. Dem steht der Bürokratie-Burnout im Wege.

Auch deshalb gerät die europäische Wirtschaft im globalen Wettbewerb immer weiter ins Hintertreffen. Die europäische Politik muss diese Entwicklung anerkennen und wirksame Gegenmaßnahmen einleiten. Dazu braucht es nicht mehr Geld, sondern spürbar weniger Belastung: Entscheidend sind gute Standortbedingungen!

Das Ziel ist ein starkes Europa mit einer starken Wirtschaft. Vorrang muss die Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit haben. Die klimaschonende Transformation ist wichtig und sie sollte mit marktwirtschaftlichen Mitteln umgesetzt werden. Doch Umwelt- und Klimapolitik sind kein Selbstzweck, sie können nicht isoliert betrieben werden. Eine andauernde Vernachlässigung ökonomischer Belange durch immer neue Vorgaben und Regularien riskiert nicht zuletzt massive soziale Auswirkungen auf unserem Kontinent.

Familienunternehmen fordern, dass es nun zum dringend nötigen Kurswechsel kommt. Wir appellieren an die die EU, stärker auf marktwirtschaftliche Lösungen zu setzen. Die Politik soll Ziele vorgeben, doch sie überfordert die Verwaltung, Bürger und Unternehmen, wenn sie glaubt, zu wissen, was der beste Weg zur Zielerreichung ist.

Familienunternehmen fordern dazu folgende Schritte der Politik:

  1. Der „Draghi-Bericht“ mit seinem Appell zur Stärkung der europäischen Wettbewerbsfähigkeit ist ein überfälliges und richtiges Signal. Die Lösung der Probleme kann aber nicht darin liegen, dass die EU neue Gemeinschaftsschulden aufnimmt, um Investitionsvorhaben zu finanzieren. Schon die Erfahrungen mit dem in der Pandemie aufgelegten Programm Next Generation EU zeigen, dass davon kein nachhaltiger Investitionsschub ausgeht und neue Abhängigkeiten entstehen. Auch das Plädoyer für eine neue Industriepolitik sehen Familienunternehmen kritisch. Gleichwohl: Der „Draghi-Bericht“ liefert eine gute Bestandsaufnahme und zeigt Wege, wie nach wie vor bestehende Friktionen im EU-Binnenmarkt beseitigt werden.
  2. Die im „Draghi-Bericht“ zur Wettbewerbsfähigkeit Europas angeregten Maßnahmen zum Bürokratieabbau müssen kurzfristig umgesetzt werden. Dazu zählt insbesondere die Vorlage neuer Vorschläge zum Erreichen des 25-Prozent-Abbauziels EU-weiter Berichtspflichten, wie es die EU-Kommission bereits im vergangenen Jahr ausgegeben hat. Diese Vorschläge müssen auch eine inhaltliche Reduktion der massiven Berichtsstandards im Rahmen der CSR-Richtlinie umfassen. Deren Anwendung führt derzeit zu erheblicher Rechtsunsicherheit bei Familienunternehmen.
  3. Wir begrüßen, dass künftig ein Kommissar für Umsetzung, Vereinfachung und Entbürokratisierung zuständig sein soll. Deregulierung muss Chefsache werden. Und sie muss auf die konkreten Belange der Wirtschaft eingehen. Davon erhoffen sich Familienunternehmen eine effektivere Koordination der Gesetzgebung sowie eine Vermeidung ständig wachsender Anforderungen an die Wirtschaft.
  4. Handelsabkommen müssen auf ihren Kern reduziert werden: den freien Austausch von Waren und Dienstleistungen sowie ungehinderten Investitionszugang. Europa verhandelt derzeit mit mehr als 30 Staaten weltweit über Freihandels- und andere Abkommen. Diese Verhandlungen finden oft seit Jahren statt. Nicht selten stehen Egoismen einzelner Mitgliedstaaten einem erfolgreichen Abschluss im Wege. Wir benötigen mehr politischen Rückenwind zum Abschluss von Freihandelsabkommen. Und sie dürfen nicht mit gesellschaftspolitischen Zielen überfrachtet werden, die nicht den Kern einer Handelspartnerschaft betreffen.
  5. Die EU muss auf Einfuhrzölle für E-Fahrzeuge aus der Volksrepublik China verzichten. Damit verbundene Negativauswirkungen und Gegenmaßnahmen belasten die Automobilbranche in der EU massiv.
  6. Die EU muss eine einheitliche Berechnungsgrundlage administrativer Kosten für Unternehmen durch neue Rechtsakte definieren. Nur auf deren Grundlage lässt sich das „One in, one out“-Prinzip wirksam umsetzen. Am besten wäre die Einführung des „One in, two out“-Prinzips.
  7. Die Rolle und der Einfluss des „Bürokratie-TÜV“ der EU-Kommission („Regulatory Scrutiny Board“) müssen gestärkt werden. Das Gremium sollte ausschließlich mit Mitgliedern besetzt sein, die von Kommission und Parlament unabhängig sind. Gesetzesentwürfe, denen das Kontrollgremium kein grünes Licht gegeben hat, dürfen in gleicher oder ähnlicher Form nicht weiter vorangetrieben werden. Ein entsprechendes Szenario wie bei der Lieferkettenrichtlinie darf sich nicht wiederholen.
  8. Eine mögliche „Omnibus-Verordnung“ der EU zum Bürokratieabbau muss zeitnah vorgelegt werden. „Omnibus“ in diesem Zusammenhang bedeutet, dass die Verordnung diverse bürokratische Regelungen wie Haltestellen nacheinander adressiert. Eine Verordnung schafft Entlastung in verschiedenen Gesetzen. Hier brauchen wir einen „Doppeldecker“: Zu den nötigen Inhalten zählen die Lieferkettenrichtlinie, CBAM und die Verordnung für entwaldungsfreie Produkte. Gerade auch die mehr als 1000 Berichtspunkte im Rahmen der Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) sollten mindestens um die Hälfte reduziert werden. Auf die Vorlage weiterer (branchenspezifischer) Berichtsstandards muss die EU verzichten.
  9. Die EU muss eine praxisgerechte Umsetzung der Lieferkettenrichtlinie ermöglichen. Insbesondere benötigen Unternehmen zusätzliche Orientierung bei der Herangehensweise an den risikobasierten Ansatz im Rahmen der Sorgfaltspflichten. Dazu sollte das kommende „Ampel-System“ aus der EU-Verordnung für entwaldungsfreie Produkte herangezogen werden, um Ursprungsländer nach möglichen Risiken zu kategorisieren und Unternehmen eine entsprechende Priorisierung zu ermöglichen.
  10. Im Rahmen der Stoffregulierung darf es keine unverhältnismäßigen Belastungen für Unternehmen geben. Eine etwaige Regulierung der Stoffgruppe der PFAS muss differenziert und anwendungsbezogen erfolgen. Im Zuge einer möglichen Novelle der Chemikalienverordnung REACH darf es zu keinen weiteren bürokratischen Belastungen wie etwa zusätzlichen Nachweispflichten für Unternehmen kommen.

So lassen sich die Standortbedingungen in Europa verbessern, ohne politische Ziele aufzugeben. Dies ist dringend nötig, um den wirtschaftlichen Substanzverlust endlich zu stoppen. Notwendig ist ein Kurswechsel der Politik, der die spürbare Steigerung der Wettbewerbsfähigkeit zum Ziel hat.

Im Namen des Kuratoriums der Stiftung Familienunternehmen und Politik. Dem Kuratorium gehören mehr als 50 namhafte Familienunternehmen an.

Brüssel, im Oktober 2024