Brüsseler Kolumne - EU nach der Wahl

Zeit für Veränderung in Europa

Wahlergebnisse lassen sich vielfältig interpretieren. Ein prominentes Beispiel hierfür bot die legendäre „Elefantenrunde“ nach der Bundestagswahl 2005 rund um den damaligen Noch-Kanzler Gerhard Schröder. So wortgewaltig wie damals geht es in Brüssel gewiss nicht zu. Dennoch klingen Ansprüche und Forderungen der Parteien nach der Europawahl bereits lauter als mögliche Selbstkritik.

Mit etwas Abstand betrachtet lässt sich für das neue EU-Parlament dreierlei festhalten. Die Stimmverhältnisse im demokratischen Parteienspektrum Europas haben sich zu Gunsten der Christdemokraten verschoben. Die Fraktionen der Mitte sind für Mehrheiten auch in den kommenden fünf Jahren aufeinander angewiesen. Und der Stimmenzuwachs am rechten Rand ist besorgniserregend — wenn auch etwas geringer als befürchtet.

Eine der Ursachen liegt auf der Hand. Wer in der Brüsseler Blase arbeitet, liest Ergebnisse einer Europawahl zwar gern im Lichte europäischer Gesetzgebung. Doch ehrlich betrachtet spielt die Stimmung gegenüber der nationalen Politik dabei immer eine wichtige Rolle. Brüssel ist für Wähler einfach weiter weg als Berlin oder Paris. Gleichwohl liegt im Wahlergebnis sicher auch eine Bewertung der europäischen Politik als Ganzes. Die EU steht zu sehr im Zeichen neuer Bürokratie und Regularien, das sorgt für erheblichen Unmut in vielen Bereichen. Der Wirtschaftsstandort Europa leidet trotz aller Vorteile der Union unter dieser Entwicklung. Das Wahlergebnis darf also keinesfalls als Bestätigung der Politik der letzten fünf Jahre begriffen werden.

Was heißt das für die kommende Legislaturperiode? Erstmal braucht die „MS Europa“ wieder eine Mannschaft. Ursula von der Leyen bleibt voraussichtlich als Kommissionspräsidentin am Steuer. Bis im Anschluss alle Kommissare im Amt sind, dürfte es jedoch November werden. Neue Initiativen sind wohl nicht vor Februar des kommenden Jahres zu erwarten. Auf 2025 kommt es an: Statt Fantasien einzelner Wahlprogramme zu folgen und weiter auf ideologische Reise zu gehen, muss die Devise lauten: Standort, Standort, Standort! Europa braucht dringend eine Kurskorrektur, um seine Unternehmen und damit sich selbst zu stärken.

Natürlich ist das leichter gesagt als getan. Ursula von Leyen steht — ihre Bestätigung durch das EU-Parlament am 18. Juli vorausgesetzt — vor komplizierten Herausforderungen. Die dringend nötige Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit Europas erfordert bessere Standortbedingungen und rechtliche Erleichterungen für Unternehmen. Gleichzeitig bleiben Klimaneutralität und Nachhaltigkeit zentrale politische Anliegen. Hier gilt es, Unternehmen einzubeziehen. Hinzu kommt ein handelspolitisches Puzzle: Der multidimensionale Umgang mit der Volksrepublik China lässt keine einfachen Antworten zu, wie die aktuelle Debatte um Zölle auf E-Autos verdeutlicht. Was bedeutet hierbei „Derisking statt Decoupling“ in der Zukunft ganz konkret? Apropos Handelspolitik: Der Abschluss des Mercosur-Abkommens liegt im Zuge der Neuwahlen des französischen Parlaments weiter auf Eis. Und die Zusammenarbeit der EU-Mitgliedstaaten im Rat ist so kompliziert wie nie zuvor. Hierbei spielt auch der Angriffskrieg Russlands in der Ukraine eine erhebliche Rolle. Zu guter Letzt sind da noch die Vereinigten Staaten. Die US-Wahlen im November dürften den eigenen wirtschaftspolitischen Handlungsdruck Europas weiter erhöhen, selbst wenn Donald Trump nicht wieder in das Oval Office einzieht.

Es braucht in Brüssel also eine Mischung aus Entschlossenheit und Diplomatie. Zuversicht kann dabei auch nicht schaden, selbst wenn das erstmal nach einer Phrase klingt. Denn so kompliziert die Herausforderungen erscheinen mögen — die richtigen inhaltlichen Ansätze liegen bereits auf der Hand. Hierbei hilft ein klarer Blick auf die Realität. Als Beispiel nehmen die Vertragsverletzungsverfahren gegen den EU-Mitgliedstaaten ständig zu, wie der „Jährliche Bericht 2022 über die Kontrolle der Anwendung des EU-Rechts“ zeigt. Die Zahl der zum Jahresende anhängigen Verfahren stieg demnach zwischen 2019 und 2022 von 1564 auf 1991. Statt also auf immer neue Regeln zu setzen, sollte Europa einen stärkeren Fokus auf die Umsetzung bestehender Vorgaben legen.

Auch in Sachen Bürokratieentlastung bietet ein Blick auf die Realität gute Orientierung. Ein Beispiel: Die Kosten der Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSR-Richtlinie) belaufen sich laut der Praxis auf ein Vielfaches der ursprünglichen Einschätzungen der EU-Kommission. Die EU-Lieferkettenrichtlinie hat die EU-Kommission gar mit null Euro an zusätzlichen administrativen Kosten in Ansatz gebracht. Es braucht also einheitliche Berechnungsgrundlagen, um Bürokratiebelastungen europäischer Gesetze zu bestimmen und zu reduzieren. Und es bedarf endlich einer frühzeitigen sowie konstruktiven Einbindung wirtschaftlicher Belange in die Entwicklung von Gesetzen, um übereilte Kompromisse wie bei der EU-Lieferkettenrichtlinie zu vermeiden. Der hierzu bereits im vergangenen Jahr angekündigte „KMU-Botschafter“ innerhalb der EU-Kommission lässt schließlich weiter auf sich warten. Wichtig ist: Die vielen Ankündigungen von der Leyens zum Bürokratieabbau müssen jetzt auch umgesetzt werden. Das gilt ebenso für weitere Vorschläge der EU-Kommission zur Reduktion der EU-weiten Berichtspflichten um 25 Prozent.

Klar ist: Kontinuität bei der Besetzung politischer Spitzenpositionen darf nicht zu inhaltlicher Kontinuität verleiten. Jeder denkt daran, die Welt zu verändern, aber niemand denkt daran, sich selbst zu verändern. Was schon Tolstoi anmahnte, muss sich auch die EU zu Herzen nehmen. Dafür setzt sich die Stiftung Familienunternehmen und Politik in Brüssel auch in der kommenden Legislaturperiode ein.

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Moritz Hundhausen

Moritz Hundhausen

Leiter Europäische Politik

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