So viel Skepsis und Selbstkritik wie in diesem Jahr gab es lange nicht mehr beim Weltwirtschaftsforum in Davos. Die Vertrauensschere zwischen Eliten und breiter Bevölkerung hat sich zuletzt besorgniserregend weiter geöffnet. Viele Bürger in den westlichen Ländern erwarten von der Zukunft nichts Gutes. Nur jeder Vierte in Deutschland glaubt einer Umfrage zufolge, dass es ihm und seiner Familie in den nächsten fünf Jahren besser gehen wird. Als Ursachen für den wachsenden Pessimismus werden das Tempo des technischen Fortschritts und die Folgen der digitalen Revolution genannt. Die Erosion des Vertrauens in die westlichen Demokratien und ihre Wirtschaftsmodelle ist ein Alarmzeichen für uns alle. Die Spaltung in Gewinner und Verlierer der Globalisierung hat viel dazu beigetragen, dass die Gegner von offenen Märkten und offenen Gesellschaften in vielen Ländern an die Macht gekommen sind. In Europa steht mit dem Brexit erstmals der Austritt eines EU-Mitgliedstaates bevor. „Slowbalisation“ – so nennt die britische Wochenzeitung „The Economist“ die Zukunft der Globalisierung.
Europäische Unternehmen sollten sich nach meiner Überzeugung stärker in die öffentliche Debatte einbringen. Das gilt vor allem für Familienunternehmen. Wir müssen neues Vertrauen in unser Modell der Sozialen Marktwirtschaft schaffen und einen neuen Aufbruch in die nächste Phase der Globalisierung wagen. Wir müssen uns aktiv gegen die „self-fulfilling prophecy“ wehren, wonach das Ende von liberaler Demokratie und Marktwirtschaft gekommen ist. Zuversicht mit Blick auf unser politisches und wirtschaftliches Wertesystem gewinnen wir nur zurück, wenn wir neues Vertrauen in die innovativen und sozialen Kräfte der Sozialen Marktwirtschaft auch in Zeiten der digitalen Revolution erzeugen. Wie in der Medizin gilt auch für die Wirtschaftspolitik: Rezepte und Heilpläne machen erst Sinn, wenn die Diagnose richtig ist, verstanden wird und der Heilplan aktiv befolgt wird.
Der neue „Länderindex Familienunternehmen“ der Stiftung Familienunternehmen stellt Deutschland ein schlechtes Zeugnis aus. Der deutsche Standort verliert gegenüber den untersuchten übrigen 20 OECD-Ländern an Attraktivität und Wettbewerbsfähigkeit. Das betrifft vor allem die Bereiche und Faktoren Steuern, Arbeit, Humankapital, Infrastruktur und Energie. Für ein exportabhängiges Familienunternehmen wie STIHL bedeuten vor allem abnehmende Qualität der Verkehrsinfrastruktur, hohe Stromkosten und Erosion der steuerlichen Wettbewerbsfähigkeit eine Gefahr für den künftigen Geschäftserfolg.
Wie gewinnen wir wieder an Attraktivität, Wettbewerbsfähigkeit und Vertrauen? Ein Heilplan zur „Gesundung“ besteht vor allem aus folgenden drei Punkten:
Deutschland muss beim Ausbau der Verkehrsinfrastruktur und der digitalen Breitbandversorgung schneller vorankommen. Dafür braucht es mehr Investitionen als die von der Großen Koalition beschlossenen Mittel. Auch Planung und Umsetzung gilt es zu beschleunigen. Die Rahmenbedingungen für F&E müssen dringend verbessert werden. Eine steuerliche F&E-Förderung mit dem Ziel, die anschließende Wertschöpfung in Deutschland zu halten, muss jetzt kommen. Für junge Unternehmen, die einen wichtigen Beitrag zu Innovationskraft und Wettbewerbsfähigkeit unseres Standortes leisten, müssen bürokratische Hürden gesenkt werden. Aufgrund des demografischen Wandels fehlen den Unternehmen Hunderttausende Fachkräfte. Wir brauchen eine Offensive für Fachkräfte mit einer Stärkung der dualen Berufsausbildung und einer potenzialorientierten Zuwanderung. Es geht um flexible Arbeitszeitmodelle. Die Betriebe bekommen die Möglichkeit, mehr Arbeitszeitvolumen flexibler nach unten und oben zu vereinbaren. Die Beschäftigten erhalten dadurch mehr Zeitsouveränität. Flexibler werden muss auch das Bildungs- und Weiterbildungssystem. Es geht um digitale Kompetenzen, Datenkunde und neues Lernen. Das Interesse an den MINT-Fächern, die in Zukunft noch wichtiger werden, lässt sich durch digitale Medien, die für Lehrer und Schüler in einer Cloud zugänglich sind, erheblich steigern. Für die Zukunftsaufgabe des lebenslangen Lernens brauchen wir ein neues, zweites Bildungssystem, um alle Beschäftigten für die digitale Transformation fit zu machen.
Der deutsche Sozialstaat ist nicht demografiefest. Wir brauchen flexiblere Modelle beim Renteneintritt und bei den Arbeitszeiten. In einer sich zunehmend digitalisierenden Arbeitswelt geht es darum, den technologischen und gesellschaftlichen Wandel vorausschauend zu gestalten. Rentensysteme, die auf dem Umlageverfahren basieren, sind weder nachhaltig noch generationengerecht. Unsere gesetzliche Rentenversicherung wird implodieren, wenn wir sie nicht durch private und betriebliche Modelle ergänzen. Programme zur Kapitalbeteiligung von Mitarbeitern sind vor allem in Deutschland kaum verbreitet. Wir brauchen Vorsorgemodelle wie in der Schweiz und eine stärkere Beteiligung der Mitarbeiter am Unternehmenskapital. Ein Beispiel ist das STIHL-Modell der Mitarbeiterkapitalbeteiligung. Hier müssen die Mitarbeiter lediglich ein Drittel des Kapitals selbst aufbringen. Die restlichen zwei Drittel gibt das Unternehmen als Zuschuss dazu. Das eingebrachte Kapital wird jährlich mit bis zu zehn Prozent verzinst. Bei STIHL beteiligen sich mehr als drei Viertel der Belegschaft an dem Modell.
Die Unternehmenssteuern sind in Deutschland im internationalen Vergleich zu hoch. Entlastet werden müssen vor allem die kleinen und mittleren Familienunternehmen, die auf menschliche Arbeitskraft setzen. Während Industriebetriebe heute in Europa im Schnitt 23 Prozent Steuern zahlen, sind es bei Digitalunternehmen lediglich neun Prozent. Es gilt, die kleinen und mittleren Familienunternehmen jetzt zu entlasten. Die angekündigte steuerliche Forschungsförderung muss bei kleinen und mittleren Unternehmen sofort kommen. Und der Solidaritätszuschlag gehört für alle Bürger abgeschafft.
Was Europa von aufstrebenden Ländern in Asien negativ unterscheidet, ist vor allem der mangelnde Optimismus auf unserem Kontinent. Ein neues Wirtschaftswunder ist möglich, wenn wir daran glauben und gemeinsam dafür arbeiten. Vollbeschäftigung ist erreichbar, wenn wir den Weg der Sozialen Marktwirtschaft mutig weitergehen. Die Hebel sind Investitionen und Innovationen, ein demografiefester Sozialstaat sowie die Entlastung von Unternehmen und Bürgern. Unternehmen, die gesellschaftliche Verantwortung übernehmen, können zudem neues Vertrauen in offene Märkte und offene Gesellschaften schaffen.
Dr. Nikolas Stihl ist Beirats- und Aufsichtsratsvorsitzender des Herstellers von STIHL Motorsägen und Motorgeräten. Seit 1971 ist STIHL nach eigenen Angaben die meistverkaufte Motorsägenmarke weltweit. Das Unternehmen hat seinen Stammsitz in Waiblingen bei Stuttgart. 38 eigene Vertriebs- und Marketinggesellschaften, rund 120 Importeure und mehr als 45.000 Fachhändler in über 160 Ländern vertreiben die Produkte. Die STIHL Gruppe beschäftigt über 16.000 Mitarbeiter weltweit und erzielte 2017 einen Umsatz von 3,8 Milliarden Euro. Der Auslandsanteil am Umsatz der Unternehmensgruppe beträgt rund 90 Prozent.